Psychiatrie Kunst Saar-Lor-Lux-Raum
Wege durch das Land der Psychiatrie
Abweichungen von der Norm – in der Kunst und im Leben
Eine Entdeckungsreise mit dem Psychiater und langjährigen Klinik-Direktor Prof. Dr. Wolfgang Werner
Wenn im Saarland jemand früher – ob im Scherz oder nicht – den Satz zu hören bekam „Du gehörst nach Merzig“, dann war das nicht als Kompliment gemeint. „Merzig“ stand als Kurzformel für das dort befindliche Landeskrankenhaus, eine psychiatrische Großklinik mit über 1000 Betten. Der Sinn der Floskel also war: „Du gehörst in die Klapsmühle.“ Diese Zeit ist lang vorbei. Als erstes und bisher einziges Bundesland hat das Saarland 1998 die frühere Merziger „Irrenanstalt“ als zentrale Einrichtung abgeschafft und die Behandlung psychisch gestörter Menschen an neue Fachabteilungen in den regionalen Krankenhäusern übertragen. Zudem wurden alltags- und wohnortnahe Betreuungsdienste aufgebaut, die dem Hilfsbedürftigen den Verbleib im sozialen Umfeld erlauben. Der Initiator und engagierte Vorkämpfer dieser fundamentalen Psychiatrie-Reform war Prof. Dr. Wolfgang Werner, der von 1978 bis 1998 als ärztlicher Direktor das Merziger Landeskrankenhaus leitete.
„Psychisch Kranke sind ganz normale Menschen“
Seine umfassende Erfahrung als Psychiater und Psychotherapeut sowie seine Liebe zur Kunst haben den Arzt nun dazu bewogen, in einer dreibändigen Buchreihe eine „Kunstreise durch das Land der Psychiatrie“ zu entwerfen, die für jeden Mitreisenden eine Fülle überraschender Entdeckungen verspricht. Dabei leitet den Autor der Vorsatz, „die Themen der condition humaine vom Ausgangspunkt der Kunst aus zu beleuchten und zu besprechen“.
Im Ergebnis führt dies den Leser zu zentralen Erkenntnissen der modernen Psychiatrie wie der, dass psychisch Kranke „ganz normale Menschen“ sind. „In der Kunst ist das Abnorme salonfähig“, schreibt Prof. Werner weiter. „Das Kunstwerk ist fast das Gegenteil von perfekter Leistung. Es ist ein Dokument des Auf-dem-Wege-Seins.“ Solche Überlegungen, auf psychisch Kranke übertragen, könnten nach Meinung des Autors „etwas mehr Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit“ in die Welt bringen. Und Respekt.
Büchner, Lenz, Rimbaud, Verlaine als Gewährsmänner
Den Zugang zum „Land der Psychiatrie“ erschließt Wolfgang Werner auf sehr ungewöhnliche Weise. Er wählt dazu „ein kindliches Verfahren“, wie er sagt, indem er das für ihn Nächstliegende als Modell der großen Welt nimmt, nämlich die seinen Wohnort Merzig umgebende Großregion, die neben dem Saarland und Luxemburg auch angrenzende nordfranzösische und südwestdeutsche Landschaften umfasst. Auch Lothringen und das Elsass werden so zu Schauplätzen unerwarteter Begegnungen mit Künstlern, die den psychischen Ausnahmezustand in ihren Werken auf vielfältige Weise verarbeitet haben.
Mit Georg Büchner folgt der Autor beispielsweise dem unstet umherirrenden Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) von Straßburg nach „Elsässisch Sibirien“, ins Steintal, nach Waldersbach, zu dem Pfarrer und Sozialreformer Johann Friedrich Oberlin. In Charleville-Mézières, der Hauptstadt des Départements Ardennes, nimmt er die Spur des dort geborenen Lyrikers und Abenteurers Arthur Rimbaud (1854-1891) auf, der in Paris eine wild bewegte Beziehung zu dem aus Metz stammenden Kollegen Paul Verlaine (1844-1896) unterhielt. Ein weiterer Gewährsmann aus Metz ist der Dramatiker Bernard-Marie Koltès mit seinen Gestalten aus den Dunkelzonen der Gesellschaft.
Entdeckungen in Épinal, Nancy und Hasborn
Wolfgang Werners Reisen führen unter anderem auch nach Nancy und Épinal zu Gemälden von Claude Lorrain, Èmile Friant und Georges de la Tour, die ihn zu Betrachtungen über die Rolle des Lichtes in der Psychotherapie oder über die schicksalshafte Unausweichlichkeit des Leidens und die Ausweglosigkeit anregen. Anhand von Gedichten des zeitgenössischen saarländischen Lyrikers Johannes Kühn aus Hasborn setzt er sich ferner mit der Wirkung der Landschaft und der Bewegung auf den Menschen auseinander. „Ich glaube an die Lösungskompetenz des Menschen“, schreibt der Autor. Schon die gemeinsame Ortsveränderung zu Fuß, vom Arzt als „Porotherapie“ eingesetzt, sei ein Stück „Freiheit des Schwachen“ und eine Art Schutz. „Mit jedem Gedicht, mit jedem Berg oder Tal treten wir in die Landschaft unserer eigenen Geschichte, unserer eigenen Seele ein.“
Wolfgang Werner geht es darum, „über Kunst und Kultur einen neuen Zugang zur Psychiatrie zu verschaffen, die zur Zeit unter der Last unzähliger biologischer Modelle entseelt zu werden droht“. Das geht alle an. Denn jeder Mensch hat in seiner Umgebung andere Menschen, die psychiatrischer Hilfe bedürfen., und/oder sie könnte auch ihm selbst guttun.
Von den Vogesen bis zu den Ardennen
Überall finden sich Spuren der verantwortungsvollen Liebe und des von Menschen verursachten Unglücks. Im elsässischen Steintal wirkte vor mehr als 200 Jahren der große Sozialreformer Friedrich Oberlin und schuf damit einen Referenzraum für das , was durch menschliches Handeln prophylaktisch für die körperliche und seelische Gesundheit bewirkt werden kann. In Lothringen, im Wallfahrtsort Hombourg Haut und im Badeort Plombières-les-Bains, zeigen sich die Möglichkeiten des Helfens mit Gott und der Welt. In Nancy wird das Tor zur Psychotherapie aufgestoßen, und im saarländischen Wintringen, einer Station des Jakobsweges, wird deutlich, wie es ist, als Behinderter oder mit Behinderung zu leben. Die Ardennen schließlich erweisen sich als endloses Feld, als Schlachtfeld, menschlichen Versagens. Die dort gelegene gewaltige Burg Bouillon wird zur großen Bühne, auf der das Seelenleben Hamlets stellvertretend auch für die Menschen unserer Zeit dargestellt wird.
Eine Reise, drei Bände
Die „Kunstreise durch das Land der Psychiatrie“ besteht aus drei Bänden. Die Titel sind dem Drama „Hamlet“ von William Shakespeare entnommen. Zum Abschluss der Reihe wird die Entwicklung von „Hamlet’s mind“ exemplarisch für alle Menschen dargestellt. Erschienen sind die Bücher im dgvt-Verlag in Tübingen, sie können über jede Buchhandlung bezogen werden.
Band 1: Welch Meisterwerk ist der Mensch! Kunstreise durch das Land der Psychiatrie. Ein Lese- und Lernbuch von Wolfgang Werner, Tübingen 2014
Band 2: Bereitsein ist alles! Kunstreise durch das Land der Psychiatrie. Ein Lese- und Lernbuch von Wolfgang Werner, Tübingen 2016
Band 3: Im Herzen meines Herzens – Kunstreise durch das Land der Psychiatrie. Ein Lese-, Lern- und Reisebuch von Wolfgang Werner, Tübingen 2018
Saar-Lor-Lux
Die in den drei Lese- und Lernbüchern, die zugleich Reisebücher sein können, angesprochenen Kunstwerke und kulturell bedeutsamen Orte, liegen in der europäischen Großregion, die sich zwischen den Ardennen im Norden und den Vogesen im Süden vornehmlich entlang dem Lauf der Mosel und ihrer Nebenflüsse erstreckt. Sie sind ausnahmslos in 1–2 Stunden von den Hauptstädten des Saar-Lor-Lux- Raumes (Straßburg, Saarbrücken, Nancy, Metz, Luxemburg) und der Stadt Trier aus mit dem Auto erreichbar. Überall sind ausgedehnte und abwechslungsreiche Wanderungen möglich. Der Besucher wird sich so gut wie immer mit der deutschen Sprache verständigen können.
Zum Autor
Wolfgang Werner, geboren 1939, Studium der Germanistik und Altphilologie, dann der Medizin: Promotion 1966, Habilitation 1974. Seit 1978 in Merzig/Saarland tätig, zunächst als Ärztlicher Direktor des dortigen Landeskrankenhauses, das er im Verlauf von 20 Jahren auflöste und durch mehrere gemeindenahe Dienste im Bundesland Saar ersetzte. Hierfür Auszeichnung mit dem Verdienstorden des Saarlandes und der Ehrenmedaille der Stadt Merzig. Danach Chefarzt der neu eingerichteten Psychiatrischen Klinik am Merziger Allgemeinkrankenhaus. Arbeitsschwerpunkte: Dezentralisierung der Psychiatrie, Psychiatrie mit offenen Türen sowie Kunst und Psychiatrie. Honorarprofessor für Psychologie an der Universität Trier.